Die Zeit bleibt stehen, genauer: sie hält inne, aber nicht
 an einer abgelegenen Stelle, fern der großen Straßen,
 sondern an einem Ort, wo der Handlungsspielraum beschränkt
 ist auf ein paar strenge, klare Muster: Hack das Holz, ernte, was du gesät hast, stopf das Loch.
 Ist ein Teich vorhanden, ist er immer breit und
 brückenlos. Obwohl, manchmal ist’s auch ein sauberer,
 ordentlicher Platz mit einer Feuerstelle und einem
 anständig gepflasterten Weg hinunter zum Strand. Man kann nie wissen.
 Hier in Georgien bin ich ihm zum ersten Mal begegnet,
 in seiner Wohnung in einer kleinen Stadt namens Kutaisi.
 Der Wohnblock - früher als Errungenschaft sowjetischen Wohlstands gepriesen - ist mittlerweile eine Ruine, ein kleines Wolkenkratzergetto. Ein Sechzehngeschosser, von dem man auf einen Sumpf blickt; postapokalyptisch sieht er aus, sogar an einem Ort wie diesem. Das erste Gespräch war ein Gespräch über Frösche.

»Hören Sie die Saubande?«, fragte Paata.
 Ich hörte sie.
 Aus einer Distanz von ein paar hundert Metern drang
 das Gequake an mein Ohr.
 »Auf die Entfernung?«, fragte ich Paata.
 »Ja.«, erwiderte er. »Die Akustik hier ist tadellos.«
 Etwa einen Kilometer weiter weg war eine Baustelle.
 Betonkonstruktionen wuchsen empor, ein großes Ding, das Ähnlichkeit mit einem Konzertsaal hatte oder mit einem extravaganten Bahnhofsgebäude.
 »Was ist das?«, fragte ich.
 »Das Parlament. Diese Idioten bauen hier ein Abgeordnetenhaus hin, mitten im Sumpf. Hören Sie das? Der Bau ist noch gar nicht fertig, aber die Abgeordneten sind schon bei der Arbeit. »Sowjeschtschajutsja«, sagte er auf Russisch – sie beraten.
 Paata spuckte aus und schnippte seine Zigarettenkippe in Richtung Baustelle.
 »Na kommen Sie«, schlug er vor, »gehn wir ein Glas Wein trinken.«
 Paata war während des Abchasienkrieges bei der Armee gewesen, aber darüber redete er nicht gern.
 »Wir waren die vieräugigen Teufel, unsre Truppe«, sagte er einmal, »meine Jungs waren alle Brillenträger.
 Wir waren Kameramänner, Dichter, Künstler. Ich bin Filmregisseur, wissen Sie. Diese Arbeit am Theater, das ist im Grunde nicht mein Ding. Ich drehe Filme, Spielfilme, verstehen Sie? Drehen heißt bei den Amis
 schießen. Ich schieße mit der Kamera - gewissermaßen.«

Einen Tag nach Kriegsende verließ Paata das Bataillon. Er hatte seit dreißig Jahren nicht mehr
 gedreht, und geschossen hatte er seit dem letzten Kriegstag auch nicht mehr. Und eine Brille trug er - so
 dick wie die Panzerung einer schusssicheren Weste.
 Er redete viel von seinen Drogenexperimenten und seinen Saufphasen.
 »Sie kennen doch die Geschichte mit dem Mann, der besoffen nach Hause kommt, obwohl er seiner Frau
 versprochen hatte, dass er aufhört? Also ... Stellen Sie sich vor, ein Mann kommt nach Hause, früh um fünf, kann sich kaum auf den Beinen halten, und seine Angetraute macht die Tür auf. Sie sieht ihn an mit diesem Blick, na, Sie wissen schon, aber dann holt er etwas hervor, etwas, das er hinterm Rücken versteckt hatte. Und was glauben Sie, was das war? Sie meinen, eine Flasche? Ha! Ein Buch war’s, und der Titel lautete: Alkoholismus heilen mit einer Spezialkombination von Produkten aus jungem Wein. Er sieht sie also triumphierend an und sagt: „Guck doch mal, Schatz, ich kuriere mich. Ich mache eine Intensivkur, es
 geht mir schon viel besser!«
 Seine Frau hat ihn daraufhin endgültig verlassen, aber nicht, weil er getrunken oder Drogen genommen hat. Das taten in Georgien alle nach dem Krieg; jeder Soldat, der sich so fühlte, als ob er höchstpersönlich den Krieg verloren hätte.
 Sie hat ihn nie geliebt, das war der Grund, warum sie ihn verlassen hat, und dann lernet er Dali kennen, eine Göttin, und die ist bis ans Ende seiner Tage seine Frau geblieben.
 Nur ein einziges Mal noch hat er ein Gewehr zur Hand genommen. Damals arbeitete er für den Fernsehsender in Tbilisi, und eine von den Angestellten, eine Frau um die Vierzig, kam ins Büro des Chefredakteurs und wollte Geld, um ihren kranken Mann zu retten.
 »Euer Krebs ist doch nicht mein Problem«, sagte der Chef.
 Da kam Paata mit einer Pistole ins Zimmer gestürmt.
 Er legte die Waffe auf den Tisch und sagte: »Das hier wird dich zwar nicht beibringen, ein Mensch zu sein, aber es kann dich zumindest daran erinnern, was Angst ist! Wenn du der Frau nicht hilfst, dann kriegst du es mit mir zu tun.«
 Danach hat er in der Hauptstadt nie wieder Arbeit gefunden, und da ist er in den Sumpf gezogen, um sich mit den Fröschen abzugeben und dem alten Theater und um zu guter Letzt seine Frau zu finden.
 »Sie sind Paata, der Filmregisseur? Der Die Ratte gedreht hat?« Fragte sie ihn, als sie sich zum ersten Mal
 begegneten.
 Er machte ihr den Hof, auf so eine schöne, altmodische Art, und dann hielt er bei ihrem Vater um die
 Hand seiner Verlobten an. Dali und Paata waren damals beide schon in den Vierzigern.
 Einmal traf ich ihn in dem kleinen Laden auf dem Dorf, wo er die Sommer verbrachte. Ich hatte ihn seit
 Jahren nicht gesehen, und es gab jede Menge Schönes, das wir einander gern erzählten, und eine schreckliche Geschichte, die erzählt werden musste; die eine Geschichte, die ich mir für später aufheben wollte.
 Aber da fragte er auch schon: »Wie geht’s denn meinem Kleinen? Was macht er, der Schurke? Ich hab nichts mehr von ihm gehört, seit ihr beide zusammen hier wart. Ich hab versucht, ihn anzurufen, aber das Telefon war aus. Ist er in der Stadt?«
 Er stand vor mir mit seinen Einkäufen.
 Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet, obwohl dies doch das Einzige war, was ich ihm wirklich erzählen
 musste. Der wahre Grund, weshalb ich hergekommen war.
 »Er hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt, Paata. Er ist nicht mehr.«
 Paata weinte wie ein Kind, und die ganze Straße, der Lebensmittelhändler, die Kunden, der Taxifahrer, alle
 umarmten ihn und weinten mit. Denn das ist Georgien, und wenn einer jemanden verliert, den er liebt, dann ist das eine Tragödie für den ganzen ubani, den ganzen Bezirk.
 Letzte Woche bin ich dort gewesen, bin mit dem Zug durch Kutaisi gefahren und hab gar nicht an Paata gedacht, war irgendwie mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich blieb in einem kleinen Dorf am Meer, hab praktisch nichts gemacht, hab weder eine Begegnung gesucht noch eine freundliche Unterhaltung.
 Ich trat aus meinem Zimmer, wollte runter an den Strand, als plötzlich eine Angestellte meinen Namen rief.
 Die alte Frau war nicht allein.
 Bei ihr auf der Veranda saß eine andere Frau, deren Gesicht mir bekannt vorkam, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, wann oder wo ich ihr schon mal begegnet war.

Ich kam näher, sie sah mir in die Augen, und da erkannte ich Dali.
 Während ich auf sie zuging, kam mir in den Sinn, dass ich sie noch nie allein gesehen hatte.
 Ich setzte mich zu ihr.
 »Paata ist tot«, sagte sie.
 Sie sah aus wie immer. Dieselben Augen, dasselbe Gesicht, dieselbe Haltung. Sie ist sehr aristokratisch,
 eine alternde Schönheit, stets an der Seite eines alten, dicken, lustigen vieräugigen Mannes, der von sich sagte, er sei ein Filmemacher, der nie schießt.
 »Letztes Jahr ist es passiert. Am 18. Mai.«
 »Hat er getrunken?«, fragte ich.
 »Nein. Er hat die letzte Zeit nicht mehr getrunken.«
 »Ist er leicht gestorben?«
 »Ja.« — Sie machte eine Geste wie ein Schwimmer, der
 von einem Pier springt.
 Wir schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Wissen
 Sie, Paata hatte einen Traum. Er wollte 33 Geschichten
 schreiben, eh er stirbt. Aber er hat nur drei geschafft.
 Ich würde mich freuen, wenn Sie sie an sich nehmen
 würden.«
 Nun habe ich diese drei Geschichten bei mir, und
 irgendwie weiß ich, obwohl ich nicht Georgisch lesen kann,
 dass sie heiter und wahrhaftig sind.
 Heiter, rein und wahrhaftig wie der Mann selbst es
 war.

August 2015, Batumi, Georgien